"Vom ersten Augenblick seines Abtransports ins faschistische Konzentrationslager Dachau im Jahre 1938 an wurde sich Bettelheim scharf der geistig beeinträchtigenden Aspekte dieser Erfahrung für einen Insassen bewusst. Zeit heilt nicht alle Wunden. Selbsterkenntnis reicht gelegentlich nicht aus. Überlebende der Konzentrationslager leiden unter schrecklichen Erinnerungen. Obwohl er müde und geschwächt war, nachdem er von der Gestapo eine Bajonettwunde zusätzlich zu einer schweren Kopfverletzung erhalten hatte, fragte er sich verwundert, "wie Menschen so viel erdulden können, ohne Selbstmord zu begehen oder wahnsinnig zu werden" (Bettelheim 1943). Seine Lebensgeschichte und Arbeit wurden zu einer introspektiven Ausarbeitung und Reflexion über diesen Akt des Erduldens. Gegen Ende von The Informed Heart (dt.: Aufstand gegen die Masse, Bettelheim 1964) erzählt Bettelheim die tragische Geschichte eines weiblichen Konzentrationslagerhäftlings, der durch die Ermordung eines kommandierenden SS-Offiziers seinen Tod riskierte. Die Gefangene war früher Tänzerin gewesen. Mit einer Gruppe nackter Häftlinge vor der Gaskammer stehend wurde sie von dem befehlshabenden SS-Offizier abkommandiert, für ihn zu tanzen. Sie kehrte das Gefühl der Demütigung um, verweigerte den Status einer Sklavin und begann zu tanzen. Es gelang ihr, dem SS-Mann das Gewehr abzunehmen und ihn zu erschießen."
In:
David James Fisher, Psychoanalytische Kulturkritik und die Seele des Menschen. Essays über Bruno Bettelheim unter Mitarbeit von Roland Kaufhold und Michael Löffelholz
Bruno Bettelheims Aufsatz von 1943 "Individuelles und Massenverhalten in Extremsituationen" (...) ist der berühmteste und umstrittenste Bericht über Konzentrationslager der bisherigen Literatur. Indem er die Struktur der Lager beobachtete und beschrieb, hat Bettelheim die Mittel und Methoden der Gestapo klar angezeigt und ihre Aktionen in Beziehungen zur vorherrschenden Nazi-Ideologie gesetzt. Die Konzentrationslager waren ausdrücklich eingerichtet, um die Moral der Insassen zu zerstören, Terror zu verbreiten, der Gestapo ein Übungsfeld zu verschaffen, zu foltern, zu quälen und den Körper und den Geist zu brechen. Obwohl dieser Bericht klassisch ist, wurde Bettelheims Aufsatz von den prominenten und psychiatrischen Ostküsten-Zeitschriften ohne weitere Umstände zurückgewiesen. Sie wandten ein, der Verfasser lasse es an Objektivität beim Schreiben über diese Frage fehlen, sein Standpunkt sei unfair gegenüber den Deutschen und der Autor, selbst Jude, Psychoanalytiker und Sozialdemokrat leide unter parnanoiden Täuschungen.
Veröffentlicht wurde der Aufsatz im "Journal ob Abnormal and Social Psychiatry", einer Zeitschrift, die überwiegend von Lehrern und Forschern der Sozialpsychologie gelesen wurde. Nur kurze Zeit darauf hat ein scharfsinniger Kritiker vom linken Flügel, Dwight MacDonald, seine Bedeutung als konzeptionellen Durchbruch gewürdigt und ihn in der Zeitschrift "Politics" erneut publiziert."
Der Aufsatz ist abgedruckt in:
Bruno Bettelheim, Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituation, München 1980
Dazu: "Die Lager dehumanisierten und bedrohten die Persönlichkeit mit Desintegration als Folge der tiefgreifenden und dauerhaften traumatischen Effekte des Alltagslebens an solch brutalen und brutalisierenden Stätten. Er definierte eine Extremsituation als eine Situation strikter Überwachung und Disziplin seitens der Gefängniswächter, gekennzeichnet durch Qual, Terror und Überarbeitung in sinnlosen und monotonen Beschäftigungen. Die Gefangenen seien in unpassende Kleidung gesteckt worden, hätten unter dem Fehlen medizinischer Pflege gelitten und seien vorsätzlich verwirrt worden, weil sie nicht gewusst hätten, warum sie gefangen worden seien oder wie lange die Gefangenschaft dauern würde. Diese massive Angst und das wiederholte Trauma hätten die Gefangenen in eine psychologische und existentielle Position der Überwältigung gebracht, die sie hilflos, passiv und vollständig dem beliebigen Willen der Wächter ergeben gemacht habe.
Bettelheim betonte, dass das sadistische Nazisystem Methoden entwickelt habe, um ehemals freie Bürger in Sklaven zu verwandeln. Das Leben in Konzentrationslagern habe die Selbstachtung, das Selbstgefühl und die Integrität der Insassen nachhaltig verletzt (vgl. Federn 1998)."
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