Dienstag, 27. Juli 2010

Weiler, Gerda

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Aus meiner aktuellen Leselektüre, die über Internet bestellt worden war und per Post vor einigen Tagen ankam:






"Die Große Mutter ist nicht die simple Vorstellung einer primitiven Religion, sondern eine Idee innerhalb einer kom-plexen Mythologie", die das Männliche als das begrenzte und vergängliche Prinzip begreift, das weibliche dagegen als das unbegrenzte, ewige und umfassende (Thompson 1985, 168). Wie der Himmel das hervorbringende Große Runde symbolisiert, wölbt sich die Höhle als ein Abbild des Göttinnen-Uterus über andächtigen Menschen, welche die heiligen Räume betreten. Wie Sonne und Mond von der Göttin geboren werden und als ihre heiligen Tiere über den Himmel wandern, so stehen sie auch an den Höhlenwänden. Im schöpferischen Geburtsakt von der Göttin ins Leben gebracht, ziehen sie hier wie am Himmel ihre Bahn, sterben und werden von der Göttin wiedergeboren. Der Wechsel des Mondes, Aufgang und Untergang der Sonne fordern die nachahmende Einfühlung der Menschen in die Rhythmen der Natur gemäß dem Vorbild ihres Werdens und Vergehens. Ein solches Weltbild führt die Menschen zur Hingabe (Frobenius 1933, 186, f.).







Heutzutage ist der Zugang durch die Vagina in die Gebärmutter der Göttin den BesucherInnen nicht mehr erlaubt. Die ursprüng-lichen Eingänge zu den Höhlen sind abgesperrt; überall sind Zäune und unzugängliches Gelände. Statt des beschwerlichen, aber beeindruckenden Weges durch das unterirdische Flußtal steht am "Eingang" der touristisch erschlossenen Höhle ein gemauertes Haus mit dem Schalter für den Verkauf der Ein-trittskarten, mit einem Kiosk, an dem Andenken, Fotos und Bildbände verkauft werden, mit Toiletten für Damen und Herren. Um in die Höhle zu gelangen, muß man sich nicht mehr durch einen engen Siphon zwängen; eine ordentliche Türe aus massivem Holz öffnet sich den Besuchern und führt unmittelbar ins Zentrum der Höhle. Das Erlebnis des ursprünglichen Ritualweges ist verloren.
Ich hänge meinen Gedanken nach, während ich darauf warte, eine Höhle zu besichtigen. Genau zwölf Personen werden eingelassen. Unsere Gruppe besteht aus zehn Frauen und zwei Männern. Der junge Mann, der uns führen soll, kontrolliert die Karten genau, zählt seine Herde durch, mehr als einmal. Dann läßt er uns zusammenrücken, postiert sich erhöht auf einem Absatz und blickt auf uns herab. Mit einem arroganten Blick auf die Überzahl der Frauen sagt er: "Sie können von Glück sagen, daß Sie jetzt leben und in diese Höhle gehen können. Damals, vor etwa zwanzigtausend Jahren, hätten die Männer keine einzige Frau in diese Höhle gelassen." "Ach, widerspreche ich, "ich bin überzeugt, daß vor zwanzigtausend Jahren die Frauen den Männern keinen Zutritt zu den Höhlen gestattet hätten."
Wenn auch alles lacht, so steht doch die Kontroverse im Raum, die zwangsläufig entstehen muß, weil es ein Unterschied ist, ob Frauen oder Männer nachdenken, forschen und die Welt deuten.







Gerda Weiler, Der aufrechte Gang der Menschenfrau, Eine feministische Anthropologie II













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